Sind Konse­quenzen besser als Strafen? Wie Erzie­hung ohne Bestra­fung wirk­lich funktioniert

Viele Eltern versu­chen in der Erzie­hung bewusst, auf Strafen zu verzichten. Vermeint­lich. Denn oft drohen sie dann mit Konse­quenzen, wenn das Kind nicht gehorcht… und diese Konse­quenzen sind nichts anders als eine Bestra­fung. Fami­li­en­be­ra­terin Maya Risch zeigt in ihrem Beitrag auf, wie man das Kind natür­liche Konse­quenzen erleben lässt und erfolg­reich persön­liche Grenzen zieht. Für eine Erzie­hung, die wirk­lich ohne Strafen auskommt.

(Erschienen September 2023 auf www​.fami​li​en​leben​.ch)

Keine Aktion ohne Konse­quenzen: Kinder lernen mehr durch natür­liche Konse­quenzen als durch ange­drohte Strafen.
© Getty Images, Innershadows

Jetzt ist aber genug! Das hat Konse­quenzen!» Kommt dir der Satz bekannt vor? Die meisten Eltern wollen heute ihre Kinder zu selb­ständig denkenden Menschen erziehen. Ein Grund, warum viele Eltern auch keine Strafen mehr einsetzen wollen. Reagiert das Kind dann aller­dings nicht auf Anwei­sungen oder Grenzen, die die Eltern ziehen, wissen viele nicht mehr weiter.

Dann beginnen die meisten mit Konse­quenzen zu drohen: Keine Bild­schirm­zeit, kein Dessert, kein Besuch bei den Freunden. Doch inwie­fern unter­scheiden sich diese ange­drohten Konse­quenzen denn von den herkömm­li­chen Strafen? Ist es nicht genau dasselbe – einfach mit neuem Namen, weil Strafen halt nicht mehr salon­fähig sind?

Keine Aktion ohne Konsequenzen

Bei den oben aufge­führten Beispielen ist genau dies der Fall. Das Ziel ist, dem Kind «Schmerzen» zuzu­fügen, damit es lernt, sich beim nächsten Mal richtig zu benehmen. Warum ich dies nicht mehr zeit­ge­mäss und sinn­voll finde und wie man solche Konflikte löst, erkläre ich übri­gens in diesem Artikel.

Natür­liche Konse­quenzen werten das Kind nicht ab. Es lernt durch die Folgen, was richtig ist.

Aber wie sollen Kinder denn lernen, was richtig ist und was nicht – so ganz ohne Konse­quenzen? Die Annahmen ist ein Trug­schluss. Denn eine Aktion ohne Konse­quenzen gibt es nicht: Es gibt immer Konse­quenzen, die das Kind erfährt. Konse­quenzen, die aber keine Strafen sind. Das sind auf der einen Seite die natür­li­chen Konse­quenzen. Damit meine ich Folgen, die von selbst eintreten. Und ande­rer­seits gibt es Konse­quenzen, die aus persön­li­chen Grenzen des Gegen­übers entstehen.

Zwei Beispiele solcher natür­li­cher Konsequenzen:

  1. Unser Sohn, damals vier Jahre alt, wollte keine Hand­schuhe anziehen, um im Schnee zu spielen. Er ging ohne Hand­schuhe nach draussen. Die natür­liche Konse­quenz war: Er bekam bald sehr kalte Hände, weinte und musste aufhören im Schnee zu spielen.
  2. Eine sehr ähnliche Konse­quenz erlebte er, als er sich an einem kalten Regentag weigerte, seine Regen­jacke anzu­ziehen. Er kam durch­nässt und frie­rend nach Hause. 

Ein Kind, das beim Rennen umfällt, hat bereits die natür­liche Konse­quenz erlebt und braucht jetzt Trost und ein Pflaster, keine Schuld­zu­wei­sung oder Belehrung.

Kaum ein Kind hört auf die Warnung: «Renn nicht so schnell, du fällst sonst um und tust dir weh.» Fällt es dann tatsäch­lich hin und schlägt sich das Knie auf, sollten wir uns verkneifen, es zu belehren mit Aussagen wie: «Ich hab dir doch gesagt, dass …» oder «Selber schuld, hättest du auf mich gehört….». Das Kind hat bereits die natür­liche Konse­quenz erlebt und braucht jetzt Trost und ein Pflaster, keine Schuld­zu­wei­sung. Jesper Juul verweist darauf, dass der Boden ein guter Lehr­meister ist: Das Kind erlebt direkte Konse­quenzen, ohne beschul­digt oder abge­wertet zu werden.

Kinder sollen eigene Erfah­rungen machen

Wenn wir Kinder die Folgen ihres Handelns erleben lassen, also natür­liche Konse­quenzen zulassen, machen Kinder Erfah­rungen. Diese können wir später gemeinsam bespre­chen. So lernt das Kind etwas über die Welt und auch über sich selber. So hat zum Beispiel unser Sohn ange­fangen, frei­willig Hand­schuhe mitzu­nehmen, nachdem er fest­ge­stellt hat, dass die Hände im Schnee zu kalt werden, um Spass zu haben und zu spielen.

Was aber geschieht, wenn ein Verhalten keine natür­li­chen Konse­quenzen hat oder solche, die zu gefähr­lich sind, um sie das Kind erleben zulassen? Wie zum Beispiel im Stras­sen­ver­kehr: Das Kind will dem Vater beim Über­queren der Strasse nicht die Hand geben und loslaufen, obwohl die Ampel auf rot steht. In dieser Situa­tion muss der Vater als Erwach­sener das Kind schützen, notfalls auch, indem er das Kind physisch stoppt oder kurz festhält. 

Nicht in jeder Situa­tion, in der das Kind nicht auf das hört, was wir ihm sagen, entsteht eine natür­liche Konse­quenz. Trotzdem kann das Kind in diesen Situa­tionen Konse­quenzen erleben, die keine Strafen sind. Diese entstehen, wenn das Gegen­über eine persön­liche Grenze zieht.

Persön­liche Grenzen kommu­ni­zieren statt drohen

Nehmen wir als Beispiel eine Mutter, die ihren drei Kindern vor dem Einschlafen eine Geschichte vorliest. Die Kinder beginnen, herum­zu­toben und sich gegen­seitig anzu­sta­cheln, anstatt zuzu­hören. Das «Hört auf!» der Mutter verhallt, ohne dass etwas sich ändert. Die Mutter könnte nun eine Strafe androhen: «Wenn ihr nicht aufhört zu streiten, gibt es keine Geschichte!» Die Kinder werden in diesem Fall bestraft, weil sie sich nicht richtig benehmen. Die Mutter vermit­telt den Kindern, dass sie sich schuldig fühlen und womög­lich schämen sollen. Sie macht die Kinder für ihr Verhalten und die Strafe verantwortlich.

Die Situa­tion könnte aber auch wie folgt gelöst werden: Die Mutter hält inne und sagt den Kindern: «Mich stört euer Streit, ich werde ganz unruhig und so mag ich nicht weiter vorlesen. Wie ist es bei euch? Wollt ihr die Geschichte hören?» Entscheiden sich die Kinder fürs Zuhören und der Streit geht trotzdem weiter, kann die Mutter ihre persön­liche Grenze klar machen: «Tut mir leid, so mag ich nicht weiter vorlesen. Kann ich etwas dafür tun, damit der Streit aufhört?» Wenn auch das nicht funk­tio­niert, beendet die Mutter das Vorlesen: «So mag ich wirk­lich nicht mehr. Ich lese euch ein andermal weiter vor. Damit ich euch gleich ins Bett begleiten kann, gehe ich kurz raus, um mich zu beru­higen. Denn ich bin gerade genervt. Gleich bin ich wieder für euch da.»

Kinder erleben, dass ihr Verhalten Einfluss auf das Wohl­ergehen anderer hat.

Die Kinder erleben so, dass sie mit ihrem Verhalten einen Einfluss auf die Mutter haben. Sie reagiert auf ihr Verhalten, fragt nach, meldet zurück, wie es ihr damit geht und zieht dann ihre persön­liche Grenze: Sie über­nimmt Verant­wor­tung für ihre Gefühle und sorgt dafür, dass es ihr wieder gut geht. Das Kind erlebt als Folge dieser persön­li­chen Grenze, dass die Geschichte gerade nicht weiter­geht, aller­dings ohne Drohung, Beschul­di­gung oder Beschämung.

Grenzen ziehen: Anstren­gend – aber lohnenswert

Der Unter­schied zwischen einer als Konse­quenz getarnten Strafe und einer Konse­quenz als Resultat einer persön­li­chen Grenze ist fein. Er ist aber für das Kind spürbar und entschei­dend für die Bezie­hungs­qua­lität zwischen den Eltern und den Kindern. Es ist vor allem eine Frage unserer elter­li­chen Haltung und Sprache. Und auch eine Frage unserer Energie: Wenn wir müde und ausge­laugt sind, greifen wir viel häufiger zur Straf­an­dro­hung, anstatt eine persön­liche Grenze zu ziehen. Dies, da Letz­teres viel schwie­riger und viel­leicht auch unge­wohnt ist. Aber jede Situa­tion, in der wir es schaffen, den anstren­gen­deren Weg zu
gehen, ist ein Gewinn für das Kind. Unsere Bezie­hung zu ihm kann sich so optimal und gesund weiterentwickeln.

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