Wie Kinder lernen, mit Stress und Wut umzugehen

Wenn Kinder wütend sind, fällt es ihnen oft schwer, sich zu beru­higen. Fami­li­en­be­ra­terin Maya Risch zeigt auf, wie Eltern ihre Kinder dabei unter­stützen können. Denn Kinder können lernen, mit dem starken Gefühl der Wut umzugehen.

(Erst­mals erschienen auf www​.fami​li​en​leben​.ch)

Wut ist ein starkes Gefühl – aber Kinder können lernen, damit umzu­gehen. Bild: Bicho_raro,

Wenn wir unseren Kindern im Umgang mit Stress und Wut helfen wollen, müssen wir erst verstehen, was die Kinder von ihrer Entwick­lung her schon können und was noch nicht. Denn wenn Kinder sehr wütend sind, schaltet sich ihr Fron­tal­hirn aus. Sie sind dann ganz Wut. Von Kopf bis Fuss.

Wut zu regu­lieren ist ein Lernprozess

Kinder können je nach Alter ihre Impulse noch nicht regu­lieren und kontrol­lieren. Dann werfen sie mit dem, was sie gerade in der Hand haben. Oder schlagen, treten, beissen.

Auch Babies spüren Ärger: Wenn Babys gestresst oder verär­gert sind, können sie nur saugen oder schreien, um sich zu beru­higen. Wird der Stress grösser, schreien sie.

Das zeigt der Umge­bung an, dass das Kind eine erwach­sene Person braucht, die ihm hilft, wieder zur Ruhe zu kommen, indem sie es füttert, ihm Nähe anbietet, es ablegt oder seine Posi­tion verän­dert. Das wird auch Fremd­re­gu­la­tion genannt. Bereits ein Baby im Alter von drei bis neun Monaten kann seine Impulse für eine ganz kurze Zeit­spanne kontrol­lieren und warten, ohne loszu­schreien. Wenn es die Erfah­rung
gemacht hat, dass die Eltern ihm zeitnah helfen.

Mit drei oder vier Jahren entdeckt das Kind dann sein «Ich». Es schreit nun auch, um den Stress zu vermeiden, der entsteht, wenn wir ihm einen Wunsch verwehren oder etwas nicht so läuft, wie sich das Kind das vorge­stellt hat. Ein zerbro­chener Keks kann ebenso Auslöser sein wie die Tatsache, dass wir nicht verstehen, dass das Kind die blaue Hose anziehen will. In diesem Alter können viele Kinder ihren Stress zum Beispiel auch mit Hilfe ihres liebsten Kuschel­tiers abbauen.

Wut löst Stress aus und ist ansteckend

Übri­gens: Auch bei uns Erwach­senen schaltet sich das Fron­tal­hirn bei grosser Bedro­hung oft ab. Nur haben die meisten von uns Stra­te­gien erworben, um sich in diesem Fall zu regu­lieren. Die Wut des Kindes löst bei uns Erwach­senen meis­tens Stress aus, egal wie alt das Kind ist. Zudem ist Wut anste­ckend wie Lachen oder Gähnen. Wir sind somit gefor­dert, uns selber zu regu­lieren, damit wir nicht von der Wut des
Kindes mitge­rissen werden und eben­falls zu schreien anfangen. Es ist völlig verständ­lich, dass wir manchmal im ersten Moment mitge­rissen werden.

Wichtig ist aber, dass wir dies recht­zeitig wahr­nehmen, Gegen­steuer geben und uns selber regu­lieren. Das Kind braucht in diesem Moment eine Person, die ruhig und präsent bleibt, die seine Gefühle genauso wahr­nimmt wie ihre eigenen und die sich bei Bedarf selber beru­higt. Gelingt uns das, können wir dem Kind helfen, sich zu beru­higen. Das Kind kann mit seiner Wut und Aufre­gung sozu­sagen zu uns in den Lift
einsteigen und zusammen mit uns wieder runter­fahren. Das wird auch Co-Regu­la­tion genannt.

Warum Sie Inter­esse zeigen sollten für die Wut des Kindes?

Auf diese Hilfe beim Regu­lieren sind unsere Kinder noch ziem­lich lange ange­wiesen. Sie entwi­ckeln zwar mit vier bis sieben Jahren die Fähig­keit, sich äusseren Umständen anzu­passen, sodass sie es dann in der Kita, im Kinder­garten und der Schule tags­über oft schaffen, sich ohne uns zu regu­lieren. Vermut­lich strengt sie diese Art der Regu­lie­rung ziem­lich an. Zu Hause regu­lieren sie ihre Wut meis­tens noch einige Jahre weiterhin durch Schreien, Weinen und Wüten, weil sie sich hier wahr­schein­lich sicher fühlen und sich darauf verlassen, dass wir trotzdem dableiben. Es lohnt sich für uns also, einen guten Umgang damit zu finden.

Ein durch­schnitt­li­ches Kind, das in einem sicheren und fürsorg­li­chen Umfeld aufwächst, braucht eine ganze Kind­heit expe­ri­men­tellen Lernens, um alle seine aggres­siven Gefühle zu inte­grieren, die destruk­tiven unter Kontrolle zu bekommen und sie von konstruk­tiven zu unterscheiden.

Jesper Juul

Ein wich­tiger Teil, unserem Kind dabei zu helfen, einen konstruk­tiven Umgang mit dem kraft­vollen Gefühl der Wut zu lernen, besteht darin, dass wir uns für seine Wut inter­es­sieren, ihr Raum geben und sie zusammen mit dem Kind aushalten und das Gefühl auch benennen: «Ja, ich sehe, dass dir das nicht gefällt. Du bist gerade sehr wütend.»

Mit Kindern im Alter von drei bis sieben Jahren habe ich gute Erfah­rungen damit gemacht, sie zu fragen: «Wie gross ist denn deine Wut?». Das Kind kann dann z.B. mit den Armen zeigen, wie gross seine Wut ist. Es hilft dem Kind, von der Grösse seiner Wut zu erzählen, wobei es wichtig ist, dass wir zuhören, ohne zu werten, ob die Wut berech­tigt ist oder nicht. 

Als mein Sohn in diesem Alter war und ich ihn nach der Grösse seiner Wut fragte, sagte er einmal: «Sie ist soooo gross wie dreimal rund um die Welt.» Ich sagte: «Soo gross? Kein Wunder, dass sie keinen Platz mehr hat in deinem Bauch. Komm, wir schauen, wie sie raus­kommen kann.» Dieser Dialog half meinem Sohn, sich über­ra­schend schnell zu beru­higen, weil er sich vermut­lich in seiner Wut ernst genommen fühlte.

Bewe­gung hilft: So wird Ihr Kind die Wut los

Wut ist Kraft. Oft ist Bewe­gung hilf­reich, um diese Energie frei­zu­setzen, ohne etwas zu zerstören oder jemandem wehzutun. Hier einige Ideen dazu:

  • Kreise oder Strecke rennen (so lang und gross wie die Wut)
  • Zeitungen zerreissen, Zeitungen zerknit­tern und werfen
  • trom­meln
  • stampfen, hüpfen auf zwei Beinen
  • Körper­teile ausschütteln
  • Papier mit grossen Kreisen «voll­krit­zeln»
  • raus­pusten: Luft ablassen (pffffff oder wuuuuuu)

Je nach «Grösse» der Wut, errei­chen wir das Kind mit Worten im akuten Moment nicht mehr. Wir können später – in einem ruhigen Moment – mit dem Kind darüber spre­chen, was es beim nächsten Mal tun kann, wenn die Wut wieder da ist. Dabei können wir das Kind auch nach eigenen Ideen fragen. Einige Kinder sind sehr erfin­de­risch. Nutzen wir ihre Krea­ti­vität, um der Wut einen Weg zu weisen und einen Raum zu geben.

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