Wenn dein Kind nicht nur das Spiel, sondern komplett die Fassung verliert

Inter­view mit Maya Risch erscheinen am 07.03.2022 auf GALAXUS.

Jede Familie kann ein Lied davon singen: Ein eigent­lich harmo­nisch ange­dachter Spiel­nach­mittag endet in Wutaus­bruch und schlechter Stim­mung, weil der Sohne­mann oder die Tochter verloren hat. Die Erzie­hungs­be­ra­terin Maya Risch verrät im Gespräch, weshalb verlieren gelernt sein will und wann es ok ist, seine Kinder extra gewinnen zu lassen.

Endlich hat es wieder einmal geklappt: Die ganze Familie hat sich um den grossen Esstisch im Wohn­zimmer versam­melt. Auf dem Tisch stehen Gesell­schafts­spiel, Snacks und Getränke bereit. Alles ist ange­richtet für einen gemüt­li­chen Spie­le­nach­mittag im Kreis seiner Liebsten. Und dann das: Nach nicht einmal einer halben Stunde löst sich die Fami­li­en­idylle jäh in Luft auf. Wutent­brannt wischt der Sohn seine Spiel­fi­guren vom Tisch und rennt schreiend in sein Zimmer. Das laute Türknallen setzt dann den akus­ti­schen Schluss­punkt unter diesen Sonn­tag­nach­mittag, der so harmo­nisch ange­dacht war.

Dir kommt diese Schil­de­rung bekannt vor? Kein Wunder: Wir alle können ein Lied von Spiel­runden singen, die in Streit und schlechter Stim­mung geendet haben, weil einer in der Runde – schlimms­ten­falls du selber – partout nicht verlieren konnte. Vor allem, wenn Kinder wort­wört­lich mit von der Partie sind, kann es schnell hitzig werden. Der Grund: Kinder müssen in der Regel erst verlieren lernen. Maya Risch, Erzie­hungs­be­ra­terin und zwei­fache Mutter zweier Söhne im Teen­ager­alter, verrät im Inter­view, weshalb verlieren gelernt sein will, ob es in Ordnung ist, seine Kinder extra verlieren zu lassen und ob sie sich selber als gute Verlie­rerin bezeichnen würde.

Maya Risch, Sie selber haben zwei Söhne. Können diese beide gleich gut verlieren?
Maya Risch: Nein (lacht). Während es dem Jüngeren leichter fiel, tat sich der Ältere mit Verlieren schwer. Ich verwende bewusst die Vergan­gen­heits­form, denn das war so, als sie noch Kinder waren. Inzwi­schen hat auch mein Älterer – vor allem dank Mann­schafts­sport – verlieren gelernt.

Wieso können die einen Kinder besser verlieren als andere?
Ich denke, es verhält sich beim Verlieren wie mit anderen Charak­ter­ei­gen­schaften. Sprich, jeder bringt andere Persön­lich­keits­ei­gen­schaften mit. Ich erlebe das auch bei meiner Arbeit als Kinder­gar­ten­lehr­person. Es gibt auf der einen Seite sehr kompe­ti­tive Kinder, auf der anderen Seite Kinder, denen gewinnen schlicht nicht so wichtig ist.

Was zur Frage führt, bis zu welchem Grad es sich um gesunden Ehrgeiz handelt und ab wann sich diese kompe­ti­tive Ausprä­gung negativ auswirkt?
Richtig, es gibt einen gesunden Ehrgeiz, der uns antreibt, erfolg­reich zu sein und Ziele zu errei­chen. Unge­sund wird es dann, wenn das Gewin­nen­wollen zum Lebens­in­halt wird. Wenn also das ganze Selbst­wert­ge­fühl davon abhängt, immer der Sieger sein zu müssen.

Wovon raten Sie Eltern drin­gend ab, wenn ein Kind während eines Spiels austickt und wütend wird?
Gene­rell habe ich fest­ge­stellt, dass ich als Kinder­gar­ten­lehr­person viel besser mit wütenden Kindern umgehen kann, als dies bei meinen eigenen Kindern der Fall war. Das liegt daran, dass uns Emotionen in nahen Bezie­hungen schneller stark bewegen und wir Eltern an die eigenen Kinder mehr Erwar­tungen und Vorstel­lungen haben, wie sie sich zu verhalten haben. Wird ein Kind während eines Spiels wütend, sollte man es natür­lich auf keinen Fall ausla­chen, anschreien, abwerten oder geschweige denn bestrafen.

Also eher trösten?
Kommt darauf an, was sie darunter verstehen. Sätze wie «hey, das ist doch nur ein Spiel» machen die Sache eher noch schlimmer, weil sich das Kind nicht ernst genommen fühlt. Denn ist ein Kind erst mal wütend, errei­chen wir es mit ratio­nalen Argu­menten nicht mehr. Es ist hilf­rei­cher, dem Kind Worte zu geben, um seine Gefühle zu benennen.

Ist ein Kind erst einmal traurig oder wütend, will es von seinen Eltern ernst genommen werden.

Was wäre denn der rich­tige Ansatz?
Auch ich habe oft nicht optimal reagiert und würde heute das eine oder andere anders angehen. Das Haupt­pro­blem ist die Erwar­tungs­hal­tung – nämlich eine schöne Zeit mit der Familie zu haben. Wenn dieses Zusam­men­sein dann wieder im Streit endet, ist die Enttäu­schung gross. Wenn wir aber damit rechnen, dass Kinder auch Frus­tra­tion zeigen könnten und dass das dazu­ge­hört, sind wir in einer besseren Ausgangslage.

Aber Wutaus­bruch bleibt auch dann Wutaus­bruch. Wie verhalte ich mich richtig als Eltern?
Erst einmal sollte man versu­chen, als Eltern ruhig zu bleiben. Hier ist unsere eigene Selbst­re­gu­la­tion gefragt. Ruhig bleiben gelingt uns dann einfa­cher, wenn wir uns bewusst sind, dass sich unser Kind noch nicht gut regu­lieren kann und wir in einem gewissen Sinne auch eine Blitz­ab­lei­ter­funk­tion haben. Grund­sätz­lich sollten wir unseren Kindern vermit­teln, dass es ok ist, zu verlieren und dass sie deswegen nicht weniger wert sind.

Und wie können wir das unseren Kindern konkret vermit­teln?
Da gibt es sicher viele Möglich­keiten. Ein Weg könnte sein, in einem ruhigen Moment das Gewinnen und das verlieren zu thema­ti­sieren und unsere Haltung dazu klar zu machen. Nämlich, dass beides zum Leben gehört und es nichts mit uns als Person zu tun. Zum Teil ist es schlicht einfach Glück oder Pech, wer verliert.

“Unge­sund wird es dann, wenn das Gewinnen wollen zum Lebens­in­halt wird.”

Maya Risch

Ich selber bin ein mise­ra­bler Verlierer. Wie wichtig sind Eltern als Vorbilder?
Es ist wie bei allem: Beson­ders kleine Kinder lernen durch Nach­ah­mung, indem sie von ihren Eltern ganz viel abschauen. Dasselbe gilt fürs Spielen. Wenn wir verlieren und dabei trotzdem cool bleiben, kann das auf unsere Kinder nach­haltig Eindruck machen und sie erhalten ein Modell dafür, wie das gehen könnte.

Ist es ok, seine Kinder extra gewinnen zu lassen?
Das hängt von verschie­denen Faktoren wie der Art des Spiels, dem Alter oder der Situa­tion ab. Nehmen wir etwa Fuss­ball: Erwach­sene sind Kindern in allen Belangen über­legen. Wenn wir Kinder dabei nicht auch einmal gewinnen lassen, laufen wir Gefahr, dass sie die Lust am Spiel verlieren. Bei Spielen hingegen, bei denen der Faktor Zufall einen grossen Einfluss auf Sieg oder Nieder­lage hat, finde ich es nicht sinn­voll, seine Kinder extra gewinnen zu lassen. Auf keinen Fall darf das Motiv zum «Nach­helfen» die Konflikt­ver­mei­dung sein. Denn verlieren soll und muss gelernt sein.

Wieso eigent­lich?
Anläss­lich dieses Inter­views habe ich genau dieselbe Frage meinem 13-jährigen Sohn gestellt. Er hat geant­wortet, dass man keine Freunde mehr haben wird, wenn man nicht gelernt hat, zu verlieren. Damit hat er recht. Verlieren zu können, bedeutet, über eine hohe Frus­tra­ti­ons­to­le­ranz und über eine gute Selbst­kon­trolle zu verfügen. Eigen­schaften, auf die man in seinem Leben immer wieder ange­wiesen ist. Letzt­lich geht es darum, sich von Nieder­lagen und Rück­schlägen nicht entmu­tigen zu lassen und weiter zu machen. Auch fällt es uns grund­sätz­lich leichter, uns auf Neues einzu­lassen, wenn wir uns nicht vor dem Schei­tern fürchten.

Sie sind seit 20 Jahren als Kinder­gar­ten­leh­rerin tätig. Können Kinder heute besser oder schlechter verlieren als früher?
Dies­be­züg­lich eine Aussage zu machen, ist schwierig. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sich Kinder und Jugend­liche heut­zu­tage schwe­r­ertun mit Verlieren.

Weshalb?
Die Digi­ta­li­sie­rung führt dazu, dass der Mensch bequemer wird. Er ist sich gewohnt, dass vieles auf Anhieb – quasi per Knopf­druck – funk­tio­niert. Dadurch kann sich die Frust­to­le­ranz verschlech­tern. Auch halte ich es für möglich, dass viele auf Beloh­nungs­sys­temen aufbau­ende Compu­ter­spiele den Ehrgeiz von Jugend­li­chen unver­hält­nis­mässig ankur­beln können. Aber das ist mehr eine persön­liche Vermutung.

Apropos persön­lich: Sind sie selber eine gute Verlie­rerin?
Hm, kommt ganz drauf an. Es gibt Spiele, wo ich tatsäch­lich mehr Mühe habe. Vor allem bei Spielen, wo man sich bekämpfen oder hart­nä­ckig verhan­deln muss – wie etwa beim Spiel «Siedler». Viel lieber spiele ich Spiele, wo Koope­ra­tion und ein Mitein­ander gefragt sind. So etwa beim Spiel «Die Crew», bei dem man gemeinsam eine Mission erfüllen muss, oder beim Karten­spiel «Hanabi», bei dem man zusam­men­spannen muss. Denn darum geht es beim Spielen: Zusammen eine gute Zeit zu haben und die Bezie­hung zu pflegen.

Du erkennst Dich oder deine Kinder in den oben genannten Situa­tionen selber? Kein Problem: Es gibt sowohl für Kinder wie auch für Erwach­sene span­nende und vor allem lehr­reiche Bücher, wie man ein besserer Verlierer, eine bessere Verlie­rerin wird. Viel­leicht ist es höchste Zeit, dass auch ich mich einge­hend mit dieser Materie auseinandersetze.

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