Was willst du mir sagen? Versteckte Botschaften von Kindern verstehen

Kinder kommu­ni­zieren nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten. Ihr Verhalten teilt uns ganz viel über ihr Befinden und ihre Bedürf­nisse mit. Erzie­hungs­be­ra­terin Maya Risch verrät, wie Sie diese versteckten Botschaften erkennen und verstehen.

(Erst­mals erschienen auf www​.fami​li​en​leben​.ch)

Bild: Getty­Images Plus, Orbon Alija

In der Bera­tung erzählte mir kürz­lich ein Vater, was er auf einer Wande­rung erlebt hatte: «Als wir im Berg­re­stau­rant waren, klet­terte mein drei­jäh­riger Sohn auf einmal auf den Holz­tisch und begann, darauf hin- und herzu­laufen.» Das machte mich neugierig. Warum stieg dieser Junge auf den Tisch und ging darauf spazieren? Wollte er zeigen, wie gross er schon ist? Wollte er erkunden, wie die Welt von oben aussieht? Oder wollte er einfach seine Eltern provo­zieren und machte etwas, wovon er wusste, dass er es nicht durfte?


Kinder reagieren auf ihre Umwelt

Kinder haben fast immer einen guten Grund für ihr Verhalten. Sie reagieren damit auf ihre Umwelt. Für uns ist dieses Verhalten zwar manchmal ein Rätsel, es nervt uns oder wir fühlen uns dadurch provo­ziert. Oder wir finden, wir hätten keine Zeit für diesen «Blöd­sinn» und wollen, dass das Kind Ruhe gibt und sich
anständig benimmt. Der Vater berich­tete weiter, dass er damals gerade einen guten Tag gehabt habe und nicht gleich losschimpfte, sondern fragte: «Was machst du denn da oben?

Ich will nicht, dass du mit Schuhen auf dem Tisch herum­gehst. Komm runter!» Der drei­jäh­rige Knirps antwor­tete: «Ihr habt mir nicht zuge­hört!» Aha! Der Kleine wollte mit seiner Aktion also ausdrü­cken, dass er bereits mehr­mals versucht hatte, etwas zu fragen oder zu erzählen, was gerade wichtig für ihn war, die Eltern ihn nicht gehört hatten. Mit seinem Verhalten erhielt er die gewünschte Aufmerk­sam­keit natür­lich schnell. 

Der Vater reagierte ruhig: «Ja, das ist wahr, wir haben gerade gar nicht gemerkt, dass du uns etwas sagen woll­test. Danke, dass du uns darauf aufmerksam gemacht hast. Komm runter und ich höre dir zu». Hätte der Vater einen «schlechten» Tag gehabt, wäre er sauer geworden und hätte das Kind viel­leicht ange­schrien und gemass­re­gelt. So hätte er eine Chance verpasst, die Bezie­hung zu seinem Sohn zu stärken und wert­zu­schätzen, dass sein Junge sich schon so klar ausdrü­cken konnte.

Inter­esse zeigen und hinterfragen

Für uns Eltern ist es meist schwierig, die versteckten Botschaften unserer Kinder zu verstehen. Insbe­son­dere dann, wenn sich Kinder nicht konform verhalten, Wider­stand leisten, Regeln über­schreiten oder wir uns sonst irgendwie provo­ziert fühlen. Aggres­sives Verhalten von Kindern wird immer durch etwas ausge­löst. Das Kind hat seinen guten Grund, wenn es aggressiv wird, Wider­stand leistet oder sich zurück­zieht. Mit seinem Verhalten will es uns etwas sagen, was ihm jedoch selber meis­tens nicht bewusst ist.

Gelingt es uns, das Verhalten des Kindes als Einla­dung zu sehen, uns dafür zu inter­es­sieren, was das Kind bewegt, können wir, wie der Vater im Beispiel, manchmal verstehen, was uns das Kind mitteilen will.

So erkennen Sie versteckte Botschaften

Ihr Kind verhält sich anders als Sie es erwarten? Viel­leicht will es Ihnen etwas mitteilen. Diese Botschaften könnten hinter der Aktion stehen:

«Mir geht es gerade nicht so gut, ich weiss mir nicht mehr selber zu helfen. Kann bitte jemand sehen, was mit mir los ist?»

«Ich kann nicht mehr ruhig spielen, ich brauche Bewegung.»

«Ich habe Hunger, Durst, bin müde. Ich brauche essen, trinken, schlafen.»

«Mir fehlt die Nähe zu euch, ich fühle mich allein­ge­lassen und unver­standen. Ihr habt so viel zu tun mit dem Baby, der Arbeit, dem kranken Opa, …»

«Ich habe zu wenig Selbst­be­stim­mung, kann nicht mitbe­stimmen. Nichts darf ich. Immer sagt ihr Nein.»

«Ihr kommt mir zu nahe. So fühle ich mich nicht wohl.»

«Ihr vertraut mir nicht. Nichts darf ich selber machen. Ich brauche mehr Vertrauen.»

«Ihr sagt nie Nein, ich fühle mich orientierungslos.»

Lange Zeit dachte ich, dass Kinder sagen können, was ihnen nicht passt und was sie brau­chen, so wie der kleine Junge im Beispiel am Anfang. Dass dies eine Ausnahme ist, lernte ich von meinem Sohn, als er etwa 10 Jahr alt war.

Auch ältere Kinder senden Botschaften

Eine Zeit lang entstand bei uns zu Hause an prak­tisch jedem Abend beim Zähne putzen und ins Bett bringen schlechte Stim­mung und Streit. Mein älterer Sohn war gereizt und ärgerte seinen Bruder. Es begann mit einem Necken, dann folgte ein Abwerten, Schubsen – und so ging es weiter. Der Jüngere liess sich das nicht gefallen und wehrte sich, wurde laut und grob. Ich hielt den Lärm und die Span­nung nicht aus und wurde auch laut. Nach einigen Tagen kam mir in den Sinn, dass mir mein älterer Sohn viel­leicht etwas mitteilen wollte. Aber ich kam einfach nicht drauf, was dies sein könnte.

Einige Abende später reagierte ich etwas genervt aus dem Bauch heraus: «Ich verstehe einfach nicht, was los ist am Abend. Jeder Abend endet im Streit. Willst du viel­leicht, dass ich dich, meinen älteren Sohn, wieder einmal zuerst ins Bett begleite?» Zu meiner grossen Über­ra­schung antwor­tete er mit einem einfa­chen «Ja». Einen Moment lang war ich sprachlos über diese uner­wartet klare Antwort, dann sagte ich: «Aha, dann sag mir das doch, das mache ich gern. Es wäre so viel einfa­cher für mich und uns alle, wenn du uns sagen würdest, was dich stresst.» Darauf erwi­derte er: «Wenn ich das gekonnt hätte, hätte ich es ja
gemacht.»

An diesem Abend wurde mir klar, dass ich die Fähig­keit von Kindern, ihre Bedürf­nisse zu äussern, über­schätzte. Ich reali­sierte, dass dies auch für ältere Kinder gilt, die sich sonst sprach­lich sehr gut ausdrü­cken können.

Ist es nicht so, dass auch wir Erwach­senen nicht immer wissen, warum wir genervt, traurig oder aggressiv sind und was wir brau­chen, damit es uns besser geht? Oft fehlen doch auch uns die passenden Worte oder wir wagen nicht, sie auszu­spre­chen. Ist es da erstaun­lich, dass dies Kindern noch viel schwerer fällt?

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