Über den Sinn und Unsinn von Strafen: Wenn das Kind nicht tut, was ich von ihm will

Sinn und Unsinn von Strafen Bestrafung und Belohnung sind überholte Tools in der Erziehung

«Belohnung und Bestrafung gehören ins Museum, sie sind nicht mehr zeitgemäss.»
Christine Ordnung, Leiterin des Deutsch-Dänischen Instituts für Familientherapie und Beratung in Berlin

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Von Maya Risch
erschienen im Onlinemagazin Familienleben.ch im November 2022

Thomas, bitte räum jetzt dein Zimmer auf, hier sieht es ja schrecklich unordentlich aus.» «Keine Lust!» Mutter: «Ich will aber, dass du das jetzt machst!» «Na gut.» Eine halbe Stunde später: «Thomas, du hast ja noch immer nicht aufgeräumt!» Thomas: «Ich will nicht, ich mach es ein andermal.» «Donnerwetter nochmal, jetzt ist aber Schluss! Immer verschiebst du alles was du tun solltest. Wenn du jetzt nicht sofort aufräumst, ist die Bildschirmzeit heute gestrichen!»

Eine Kombination aus Hilflosigkeit und eigene Erfahrung

Wer kennt sie nicht aus eigener Erfahrung, solche Situationen? Wenn das Kind quengelt und bockt, nicht gehorcht oder nicht zuhört, wissen sich viele Eltern nicht zu helfen. Sie drohen mit Strafen wie Hausarrest, Handyverbot oder Sackgeldkürzungen. Die meisten von uns Eltern verfallen ab und zu in dieses Muster – auch wenn wir dies eigentlich gar nicht gut finden. Es geschieht aus einem Gefühl der Hilflosigkeit. Wir wissen uns einfach nicht mehr anders zu helfen. Das ist auch verständlich: Die meisten haben als Kind erlebt, wie sich ihre Eltern auf diese Art durchgesetzt haben.

«Belohnung und Bestrafung gehören ins Museum, sie sind nicht mehr zeitgemäss.»
Christine Ordnung, Leiterin des Deutsch-Dänischen Instituts für Familientherapie und Beratung in Berlin

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Sicht auf Kinder und auf deren Erziehung jedoch sehr verändert. Früher war man der Ansicht, dass Kinder wie ein unbeschriebenes Blatt zur Welt kommen und die Eltern und LehrerInnen sie formen, zum Guten erziehen und konditionieren müssen. Im Fokus der Gesellschaft und Erziehung war es, gehorsame Kinder zu formen, die gut funktionieren. Und dafür sind Angstmache, Androhung von Strafen sowie Bestrafung und Belohnung hilfreiche und notwendige Mittel.

Kinder brauchen jemanden, der ihre Bedürfnisse erkennt

Diese Art von Erziehung ist jedoch aus der Perspektive der Kinder nicht nur schmerzhaft, sondern auch nicht nachhaltig. Menschen können sich und ihr Verhalten nur dann nachhaltig verändern, wenn sie das auch wollen. Wir haben nicht die Macht, andere Menschen zu verändern.
Gemäss dem heutigen Stand der Entwicklungspsychologie und Pädagogik kommen Kinder bereits mit einer eigenen Persönlichkeit auf die Welt. In der ersten Zeit brauchen sie vor allem eines. Nämlich, dass ihre Bedürfnisse möglichst zeitnah erkannt und befriedigt werden. So können sie zu einer verlässlichen einfühlsamen Bezugsperson, die für sie da ist, eine sichere Bindung aufbauen. Dies ist die wichtigste Grundlage für die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls, eines Urvertrauens und der Fähigkeit, gesunde Beziehungen aufzubauen.

Kinder wollen mit uns zusammenarbeiten

Babies und Kinder sind von uns Eltern abhängig, sowohl physisch als auch emotional. Sie wollen sich mit uns verbunden fühlen und wollen zur Gemeinschaft dazugehören, in der sie leben. Um das zu erreichen, bringen Kinder von Geburt an eine grosse Bereitschaft mit, mit uns Eltern zusammenarbeiten.

Vermutlich sagen Sie jetzt: «Mein Kind arbeitet aber nicht mit mir zusammen, es tut einfach nicht, was ich ihm sage.» Okay, Ihr Kind ist in dem Fall ungehorsam. Aber heisst das wirklich, dass es nicht bereit ist, mit Ihnen zusammenzuarbeiten? Sehen Sie es auch als mangelnde Bereitschaft zur Zusammenarbeit an, wenn Sie selber nicht gleich das tun, was Ihr Partner oder Ihre Partnerin gerade von Ihnen will?

Das Verhalten von Kindern ist ein Teil ihrer Sprache

Jesper Juul schreibt: «Das Verhalten der Kinder ist Teil ihres persönlichen Ausdrucks dafür, wie es ihnen mit sich selbst geht, wie sie mit ihrer Familie, dem Kindergarten oder in der Schule zurechtkommen. Und allein deshalb ist es absurd, manches Verhalten zu kritisieren oder zu bestrafen und anderes zu loben oder zu belohnen.»
Betrachten wir kindliches Verhalten als Teil seiner Sprache, wird schnell klar, dass es unsinnig ist, das Kind für sein Verhalten zu belohnen oder zu bestrafen. Schliesslich versucht es nur, uns etwas mitzuteilen. Kinder können sprachlich nicht auf den Punkt bringen, was ihnen fehlt oder was sie stört. Darum kommen sie leider nicht zu uns und sagen: «Hör mal, dass du so oft am Handy bist und mich nicht wirklich wahrnimmst, gefällt mir nicht. Ich fühle mich unwichtig, nicht gesehen, nicht gehört von dir.» Stattdessen zeigen sie uns mit ihrem Verhalten, was sie fühlen – zum Beispiel indem sie nicht tun, was wir ihnen sagen. So zeigen sie, dass sie etwas in ihrem Dasein stört, etwas fehlt oder schwierig ist. Sie sagen auch nicht: «Ich finde es ja ganz nett, dass ich ein Geschwister bekommen habe. Es stört mich aber gewaltig, dass ich eure Liebe jederzeit mit ihm teilen muss, so habe ich mir das nicht vorgestellt.» Stattdessen stören sie uns bei der Pflege des Kleinen, werden vermehrt wütend oder versuchen sonst wie auf ihren Verlust aufmerksam zu machen.

Kindliches Verhalten als Ausdruck des Befindens 

Was lernt ein Kind, wenn wir es in so einem Moment für sein Verhalten bestrafen? Wohl in erster Linie, dass es schmerzhaft ist, für sich selber einzustehen und seine Gefühle auszudrücken. Ein wichtiger Schritt seitens uns Eltern ist schon geleistet, wenn wir uns in solchen Situationen bewusst werden, dass das anstrengende Verhalten unseres Kindes in erster Linie Ausdruck seines (Un-)Wohlbefindens ist und es nicht sein Ziel ist, uns zu provozieren. Indem wir uns nicht angegriffen fühlen und das störende Verhalten nicht persönlich nehmen, schaffen wir die Voraussetzung, um gelassen zu bleiben und dafür zu sorgen, dass die Situation nicht eskaliert.


“Tut Wut gut?”

"Tut Wut gut?" Umgang mit Aggression, www.mayarisch.ch

“Tut Wut gut?”

Wut ist wird oft negativ bewertet, weil wir keine Gewalt wollen. Deshalb soll die Wut auch weg.
Dabei kann sie uns, rechtzeitig ausgedrückt, wirklich eine Hilfe sein im Leben, denn sie bringt viel Kraft mit sich.

Dieser Artikel ist im April 2020 auf www.familienleben.ch erschienen.

«Wenn ich nach einem Tag ohne Pause und dem x-ten Streit der Kinder explodiere und in der Wut meine Kinder anschreie und Dinge zu ihnen sage, die ich im Leben nie sagen wollte, plagen mich danach Schuldgefühle», sagt meine Freundin. «Wut ist keine gute Sache.» Ihr Sohn findet hingegen: «Hmm, wenn ich wütend bin und dann Dampf ablasse und schreie, stampfe und kämpfe, bin ich nachher irgendwie leichter und ruhiger. Wut tut mir gut.»

Wut erkennen und als Warnsignal nutzen

Wut ist eine Kraft, Lebensenergie, ein Grundgefühl, das alle Menschen schon bei der Geburt mitbringen. Sie leistet uns als Warnsignal gute Dienste, wenn es uns gelingt, sie rechtzeitig wahrzunehmen und zum Ausdruck zu bringen. Zum Beispiel indem wir frühzeitig und kraftvoll «Nein» oder «Stopp» sagen, wenn unsere Grenze überschritten wird. «Ich halte diese laute Musik nicht mehr aus. Ich will, dass du leiser stellst oder ins Zimmer gehst.» Oder, wenn wir kraftvoll dafür einstehen, dass wir 15 Minuten Pause brauchen, weil grad alles zu viel wird. Wut kann Veränderung bewirken, wenn wir sie rechtzeitig wahrnehmen und angemessen ausdrücken.

Das klingt einfach und einleuchtend. Warum lehnt dann aber meine oben erwähnte Freundin die Wut ab? Warum fällt es den meisten von uns so schwer, Wut als etwas Gutes zu sehen und ihre Kraft zu nutzen?

Wir wollen Wut oft nicht wahrnehmen. Warum eigentlich?

Vielfach kennen wir nur die zerstörerische Seite der Wut. Vielen von uns wurde von wütenden Erwachsenen Gewalt angetan, indem wir verbal gedemütigt oder gar geschlagen wurden. Daraus haben wir gelernt, dass Wut und Aggression zu Gewalt führen und grosse Schmerzen verursachen. Weil wir unsere Liebsten nicht verletzen wollen, lehnen wir nicht nur Gewalt ab sondern auch gleich Wut und Aggression.

Wenn wir keinen gesunden Umgang mit Wut erlebt haben, keine Modelle und Strategien kennen, wie wir konstruktiv damit umgehen können, dann ängstigt es uns, wenn wir spüren, wie Wut in uns aufsteigt. Wir wollen nicht gewalttätig sein und unsere Erfahrung sagt uns, dass wir nun gerade darauf zusteuern, also versuchen wir, die Wut zu verdrängen. Wir negieren, verstecken oder unterdrücken sie.

Wohin geht die Kraft, wenn wir unsere Wut verdrängen?

Leider führt diese Unterdrückungs-Strategie häufig genau zu dem, was wir eigentlich verhindern wollen. Indem wir Wut verdrängen, verschwindet sie nicht einfach, sondern gärt im Versteckten weiter, wie frischer Most in einer Flasche. Wir können die Flasche zwar zuschrauben, damit der Most nicht ausläuft, aber irgendwann wird der Druck so gross, dass die ganze Flasche explodiert. Die Wut staut sich an und sucht sich dann irgendwann unkontrolliert ihren Weg.

Tatsächlich ist es so, dass die Gefahr für Gewalt steigt, wenn wir uns unter Druck, hilflos oder ohnmächtig fühlen. Wir halten das nicht mehr aus, explodieren irgendwann und werden verbal oder physisch ausfällig.

Bei einigen Menschen geschieht auch das Gegenteil. Um diese Explosion zu verhindern, geht die verdrängte Kraft nach innen, gegen uns selber los. Wir werden uns selber gegenüber abwertend, zweifelnd, traurig oder verbittert.

Wie wir uns mit unserer Wut auseinandersetzen

Tut Wut nun also gut? Sicherlich nicht, wenn sie zerstörerisch wirkt. Sie tut gut, wenn wir den gesunden Umgang mit ihr erlernen.

Das ist ein Prozess. Ein erster Schritt in die richtige Richtung besteht darin, Wut bewusst wahrzunehmen, wenn sie hochkommt, statt sie zu verdrängen, wenn sie als sich als Signal meldet. «Hallo Wut» könnte ein Anfang sein.

Wenn das nächste Mal Wut hochkocht, können Sie sie versuchen, sich wie von aussen zu beobachten. Was passiert im Körper, im Herzraum, im Bauch? Welche Gedanken habe ich? Darf Wut sein? Wenn nicht, warum nicht?

Wie gehe ich denn mit der Wut meiner Kinder um? Was kann ich tun, wenn ich schon explodiert bin? Woher kommt denn die Wut überhaupt und wie kann ich sie regulieren und angemessen ausdrücken? Fragen Sie sich nun vielleicht. Damit sind Sie nicht allein, deshalb mehr dazu in einem nächsten Artikel oder in meinem Kurs “Tut Wut gut?”.

Mit einem Klick auf den Titel  kannst du den Artikel als PDF downloaden.

Ausstieg aus dem Machtkampf

Ausstieg aus dem Machtkampf

Machtkämpfe hinterlassen in erster Linie Verlierer. Sie tun keiner Beziehung gut. Obwohl wir das eigentlich alle wissen, schlittern wir doch immer wieder unvermittelt in Machtkämpfe, gerade als Eltern. Ausstieg aus dem Machtkampf ist deshalb nötig.

Und dann stecken wir darin fest. Wie ich kürzlich, als mein Sohn seine nassen Badesachen in der Schule vergass. Ich verlangte: «Geh bitte die Sachen im Schulhaus holen!» Er weigerte sich: «Nein!» «Ganz sicher gehst Du das jetzt holen!» Und schon waren wir in einen Machtkampf verstrickt. Druck erzeugt Gegendruck. Beide kämpften immer lauter und mit viel Kraft verbissen für das eigene Ziel, ohne einander richtig zuzuhören. Die Stimmung verschlechterte sich und eine konstruktive Lösung unseres Konflikts wurde unmöglich.

Die Ausgangslage war natürlich ein Konflikt, da ich etwas wollte und er etwas anderes. Es hätte trotzdem kein Machtkampf draus werden müssen, und doch geschieht genau dies immer mal wieder. Umso wichtiger stellt sich die Frage, ob und wie wir wieder aus diesem Kampf ausbrechen können.

Aus einem Machtkampf auszusteigen ist sehr schwierig, weil wir den Ausstieg als Niederlage erleben. Das eigene Ziel mittendrin aufzugeben fühlt sich nicht nur für das Kind sondern auch für mich als Erwachsene fast unmöglich an. Inzwischen habe ich aber einen Weg gefunden, der bei mir meistens funktioniert. Diesen möchte ich mit Euch teilen.

Wenn ich wahrnehme, dass ich in einen Machtkampf geraten bin, reagiere ich (an einem guten Tag) indem ich sage: “Ich merke, dass wir beide so verbissen kämpfen. Ich will aber gar nicht mit dir kämpfen. Lass uns später reden. Vielleicht kannst du mir dann sagen, wann du die Badehosen holst.”

Gelingt es mir so, den Druck wegzunehmen und auszusteigen, kann auch das Kind aufhören zu kämpfen. Der Konflikt ist damit zwar noch nicht gelöst, aber niemand fühlt sich als Verlierer und wir können wieder in Beziehung zueinander treten. Und oft kommt vom Kind auf einmal ein konstruktiver Vorschlag.

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