Über den Sinn und Unsinn von Strafen: Wenn das Kind nicht tut, was ich von ihm will

Sinn und Unsinn von Strafen Bestrafung und Belohnung sind überholte Tools in der Erziehung

«Belohnung und Bestrafung gehören ins Museum, sie sind nicht mehr zeitgemäss.»
Christine Ordnung, Leiterin des Deutsch-Dänischen Instituts für Familientherapie und Beratung in Berlin

pixabay.com

Von Maya Risch
erschienen im Onlinemagazin Familienleben.ch im November 2022

Thomas, bitte räum jetzt dein Zimmer auf, hier sieht es ja schrecklich unordentlich aus.» «Keine Lust!» Mutter: «Ich will aber, dass du das jetzt machst!» «Na gut.» Eine halbe Stunde später: «Thomas, du hast ja noch immer nicht aufgeräumt!» Thomas: «Ich will nicht, ich mach es ein andermal.» «Donnerwetter nochmal, jetzt ist aber Schluss! Immer verschiebst du alles was du tun solltest. Wenn du jetzt nicht sofort aufräumst, ist die Bildschirmzeit heute gestrichen!»

Eine Kombination aus Hilflosigkeit und eigene Erfahrung

Wer kennt sie nicht aus eigener Erfahrung, solche Situationen? Wenn das Kind quengelt und bockt, nicht gehorcht oder nicht zuhört, wissen sich viele Eltern nicht zu helfen. Sie drohen mit Strafen wie Hausarrest, Handyverbot oder Sackgeldkürzungen. Die meisten von uns Eltern verfallen ab und zu in dieses Muster – auch wenn wir dies eigentlich gar nicht gut finden. Es geschieht aus einem Gefühl der Hilflosigkeit. Wir wissen uns einfach nicht mehr anders zu helfen. Das ist auch verständlich: Die meisten haben als Kind erlebt, wie sich ihre Eltern auf diese Art durchgesetzt haben.

«Belohnung und Bestrafung gehören ins Museum, sie sind nicht mehr zeitgemäss.»
Christine Ordnung, Leiterin des Deutsch-Dänischen Instituts für Familientherapie und Beratung in Berlin

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Sicht auf Kinder und auf deren Erziehung jedoch sehr verändert. Früher war man der Ansicht, dass Kinder wie ein unbeschriebenes Blatt zur Welt kommen und die Eltern und LehrerInnen sie formen, zum Guten erziehen und konditionieren müssen. Im Fokus der Gesellschaft und Erziehung war es, gehorsame Kinder zu formen, die gut funktionieren. Und dafür sind Angstmache, Androhung von Strafen sowie Bestrafung und Belohnung hilfreiche und notwendige Mittel.

Kinder brauchen jemanden, der ihre Bedürfnisse erkennt

Diese Art von Erziehung ist jedoch aus der Perspektive der Kinder nicht nur schmerzhaft, sondern auch nicht nachhaltig. Menschen können sich und ihr Verhalten nur dann nachhaltig verändern, wenn sie das auch wollen. Wir haben nicht die Macht, andere Menschen zu verändern.
Gemäss dem heutigen Stand der Entwicklungspsychologie und Pädagogik kommen Kinder bereits mit einer eigenen Persönlichkeit auf die Welt. In der ersten Zeit brauchen sie vor allem eines. Nämlich, dass ihre Bedürfnisse möglichst zeitnah erkannt und befriedigt werden. So können sie zu einer verlässlichen einfühlsamen Bezugsperson, die für sie da ist, eine sichere Bindung aufbauen. Dies ist die wichtigste Grundlage für die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls, eines Urvertrauens und der Fähigkeit, gesunde Beziehungen aufzubauen.

Kinder wollen mit uns zusammenarbeiten

Babies und Kinder sind von uns Eltern abhängig, sowohl physisch als auch emotional. Sie wollen sich mit uns verbunden fühlen und wollen zur Gemeinschaft dazugehören, in der sie leben. Um das zu erreichen, bringen Kinder von Geburt an eine grosse Bereitschaft mit, mit uns Eltern zusammenarbeiten.

Vermutlich sagen Sie jetzt: «Mein Kind arbeitet aber nicht mit mir zusammen, es tut einfach nicht, was ich ihm sage.» Okay, Ihr Kind ist in dem Fall ungehorsam. Aber heisst das wirklich, dass es nicht bereit ist, mit Ihnen zusammenzuarbeiten? Sehen Sie es auch als mangelnde Bereitschaft zur Zusammenarbeit an, wenn Sie selber nicht gleich das tun, was Ihr Partner oder Ihre Partnerin gerade von Ihnen will?

Das Verhalten von Kindern ist ein Teil ihrer Sprache

Jesper Juul schreibt: «Das Verhalten der Kinder ist Teil ihres persönlichen Ausdrucks dafür, wie es ihnen mit sich selbst geht, wie sie mit ihrer Familie, dem Kindergarten oder in der Schule zurechtkommen. Und allein deshalb ist es absurd, manches Verhalten zu kritisieren oder zu bestrafen und anderes zu loben oder zu belohnen.»
Betrachten wir kindliches Verhalten als Teil seiner Sprache, wird schnell klar, dass es unsinnig ist, das Kind für sein Verhalten zu belohnen oder zu bestrafen. Schliesslich versucht es nur, uns etwas mitzuteilen. Kinder können sprachlich nicht auf den Punkt bringen, was ihnen fehlt oder was sie stört. Darum kommen sie leider nicht zu uns und sagen: «Hör mal, dass du so oft am Handy bist und mich nicht wirklich wahrnimmst, gefällt mir nicht. Ich fühle mich unwichtig, nicht gesehen, nicht gehört von dir.» Stattdessen zeigen sie uns mit ihrem Verhalten, was sie fühlen – zum Beispiel indem sie nicht tun, was wir ihnen sagen. So zeigen sie, dass sie etwas in ihrem Dasein stört, etwas fehlt oder schwierig ist. Sie sagen auch nicht: «Ich finde es ja ganz nett, dass ich ein Geschwister bekommen habe. Es stört mich aber gewaltig, dass ich eure Liebe jederzeit mit ihm teilen muss, so habe ich mir das nicht vorgestellt.» Stattdessen stören sie uns bei der Pflege des Kleinen, werden vermehrt wütend oder versuchen sonst wie auf ihren Verlust aufmerksam zu machen.

Kindliches Verhalten als Ausdruck des Befindens 

Was lernt ein Kind, wenn wir es in so einem Moment für sein Verhalten bestrafen? Wohl in erster Linie, dass es schmerzhaft ist, für sich selber einzustehen und seine Gefühle auszudrücken. Ein wichtiger Schritt seitens uns Eltern ist schon geleistet, wenn wir uns in solchen Situationen bewusst werden, dass das anstrengende Verhalten unseres Kindes in erster Linie Ausdruck seines (Un-)Wohlbefindens ist und es nicht sein Ziel ist, uns zu provozieren. Indem wir uns nicht angegriffen fühlen und das störende Verhalten nicht persönlich nehmen, schaffen wir die Voraussetzung, um gelassen zu bleiben und dafür zu sorgen, dass die Situation nicht eskaliert.


Eifersucht in der Geschwisterbeziehung

Eifersucht in der Geschwisterbeziehung

Von wegen Geschwisterliebe!


Im Gespräch mit Martin Rupf, Senior Editor Digitec Galaxus, Bereich Familie
erstmals erschienen auf Galaxus.ch

Frau Risch, haben Sie Geschwister und wenn ja, wie lief das in Ihrer Kindheit ab?
Maya Risch: Ich habe eine drei Jahre jüngere Schwester. Ich erinnere mich gut, wie ich manchmal eifersüchtig war auf sie und wir deswegen auch immer mal wieder stritten. Auch erinnere ich mich gut daran, dass unsere Mutter die Auseinandersetzungen fast nicht ausgehalten hat und diese unterbinden wollte. Oft bekam ich dabei zu hören; «du bist doch die Grosse, sei doch bitte vernünftig». Das fand ich unfair und es hat meine Eifersucht eher befeuert. Ich hatte dadurch oft den Eindruck, meine kleine Schwester sei die Liebe und von mir wurde erwartet, lieb zu meiner Schwester zu sein. Doch es passierte dann eher das Gegenteil. Sodass ich meine Schwester nämlich öfters hinten herum zu plagen begann.

Wie ist Ihre Beziehung zu ihrer Schwester heute? Schwingt die Eifersucht bis heute nach?
Nein, das würde ich so nicht sagen. Wir haben beide eine ziemlich unterschiedliche Lebensform gewählt. Wir pflegen Kontakt, auch wenn dieser heute nicht sehr eng ist.

Gibt es eigentlich günstigere und weniger günstigere Konstellationen, die sich auf die Ausprägung der Eifersucht auswirken?
Das ist eine gute Frage, und es wurde auch schon viel darüber geschrieben. So gilt etwa die allgemeine Meinung, dass die Eifersucht unter gleichgeschlechtlichen Geschwistern ausgeprägter ist als zwischen einem Mädchen und einem Buben oder aber auch, dass Geschwister mit einem kleinen Altersunterschied eifersüchtiger aufeinander sind.

Sie sagen es «gilt». Ihre Erfahrung ist also eine andere?
Ja. Ich glaube letztlich steht und fällt die Intensität der Eifersucht mit den Individuen und damit, wie ihr Umfeld mit ihnen interagiert. So hatte ein Freund von mir einen achtjährigen Sohn, als er eine Tochter bekam. Für diesen Sohn war es extrem schwer, neben sich plötzlich eine kleine Prinzessin zu haben – trotz des grossen Altersabstands.

Apropos Platz teilen. Wie wichtig ist es, das Erstgeborene auf die Ankunft seines Geschwisters vorzubereiten?
Diese Vorbereitung ist in der Tat sehr wichtig. Oft stellen Eltern an diese Vorbereitung grosse Ansprüche – auch an die Auffassungsgabe des Erstgeborenen. Wenn wir Eltern aber schon nicht wissen, wie sich die Ankunft des zweiten Kindes auf das Familienleben auswirken wird, wie soll dies dann ein Kleinkind einschätzen können? Wenn das Baby erst einmal da ist, empfiehlt es sich, das Erstgeborene in die Tätigkeiten zu integrieren – dass es also zum Beispiel auch mal bei der Pflege des Babys mithelfen darf. Aber Achtung: Wenn das Erstgeborene eventuell etwas grob zum Baby ist, bedeutet das noch lange nicht, dass es eifersüchtig ist. Kleinkinder haben oft schlicht noch kein Gespür dafür, was zu viel ist und brauchen eine liebevolle Begleitung und eine Anleitung, wie sie mit dem Baby umgehen dürfen. Doch nicht nur die Eltern können einen Beitrag leisten, dass das Erstgeborene weniger eifersüchtig wird.

Sondern?
Auch das engere Umfeld. Indem man zum Beispiel als Besucherin nicht automatisch auf das Baby zusteuert und ihm die ganze Aufmerksamkeit schenkt, sondern sich vielleicht zuerst dem Erstgeborenen zuwendet. Wenn das ältere Geschwister Tag für Tag erleben muss, wie die ganze Aufmerksamkeit zum anderen Kind geht, ist es völlig normal, dass es sich in die zweite Reihe zurückgestellt fühlt.

In welchem Alter ist die Geschwistereifersucht in der Regel am deutlichsten ausgeprägt?
Das lässt sich nicht generell sagen. Nehmen wir meine beiden Söhne, die im Abstand von drei Jahren zur Welt kamen. Am Anfang hat sich der Ältere sehr gefreut und war sehr interessiert und liebevoll. Erst als der Kleine begonnen hat, zu gehen, hat sich Eifersucht beim Älteren bemerkbar gemacht. Der Grund: Der Ältere realisierte in diesem Augenblick, dass seine Autonomie, sein Raum – ja seine Spielzeuge – bedroht waren.

Maya Risch:«Herausfordernd wird es oft dann, wenn das Zweitgeborene plötzlich schneller, klüger oder mutiger. wird und somit die natürliche Rangordnung auf den Kopf zu stellen droht.»

Woher kommt die Eifersucht unter Geschwistern überhaupt?
Da gibts natürlich ganz viele Gründe. Ganz konkret ist es auch eine Frage der Ressourcen der Eltern, die zum Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder je nachdem in ganz anderen Situationen stecken und eventuell ganz unterschiedlich belastbar sind. Herausfordernd wird es oft dann, wenn das Zweitgeborene plötzlich schneller, klüger oder mutiger wird und somit die natürliche Rangordnung auf den Kopf zu stellen droht. Und natürlich ist es für das Erstgeborene immer eine extreme Umgewöhnung, wenn es plötzlich alle Ressourcen mit einem Geschwister teilen muss. Der verstorbene Familientherapeut Jesper Juul hat es mal so veranschaulicht: Stellen sie sich als Mann vor, ihre Frau bringt plötzlich einen zweiten Mann nach Hause und sagt: «Das ist der Peter, der wohnt ab jetzt hier. Ich habe euch aber beide gleich gern, heisse ihn also bitte herzlich willkommen.» Etwa so erleben Erstgeborene die Ankunft ihres Geschwisters.

Geschwister zanken sich regelmässig und das ist normal. Wieso ist ein gesundes Mass an Reibung und Rivalität gut für Geschwister?
Streit und Auseinandersetzungen – auch der Eifersucht geschuldet – sind eine grosse Chance für Geschwister. Nämlich, sich durchzusetzen zu lernen und Grenzen zu setzen. Seine Geschwister hat man sich nicht ausgesucht, die hat man einfach. Deshalb sollten Eltern auch nicht automatisch davon ausgehen, dass sich ihre Kinder besonders lieben sollen und werden. Aber gerade, weil die Geschwisterbeziehung einfach gegeben ist, erlaubt das den Geschwistern auch mal über die Grenzen zu gehen. Denn egal wie heftig der Streit oder die Auseinandersetzung war, die Beziehung hält trotzdem Bestand. Manchmal haben meine Jungs so heftig gestritten, dass mir das eigentlich zu weit ging. Wenn ich sie dann fragte, ob das noch ok sei, sagten sie oft «ja». Bei Jungs werden die Konflikte dabei oft physisch, bei Mädchen eher verbal ausgetragen. Gerade für mich, die mit einer Schwester aufgewachsen ist, ist und war es nicht immer einfach, richtig einzuschätzen, ob und wann ich bei einem Streit meiner Jungs eingreifen sollte.

Das führt zur Frage, wann es als Eltern angebracht ist, in einen Konflikt einzugreifen oder einem Eifersuchtsmuster entgegenzuwirken?
Wie überall in der Erziehung ist es zentral, die Dinge zu verbalisieren und zu benennen. Ich höre oft von älteren Menschen, aber auch Fachpersonen, dass es früher für die Eifersucht und viele andere Gefühle im Familienleben schlicht keine Worte gab. Anerkennen zu können, dass es Eifersucht unter Geschwistern gibt, ist schon ein grosser Schritt. Wenn Eltern sich dessen nämlich erst mal bewusst sind, merken sie, dass Sätze wie «lass doch den Kleinen» oder «stell dich nicht so an, die Kleine kann das doch auch» nicht zielführend sind.

Vergleiche dürften wohl sowieso ein No-Go sein, will man die Eifersucht unter seinen Kindern nicht befeuern?
Absolut. Vielmehr sollten Eltern versuchen, jedes Kind mit all seinen Stärken und Schwächen als Individuum wahrzunehmen und auf Vergleiche verzichten. Und auf noch etwas sollten wir Eltern verzichten.

Nämlich?
Versuchen, bei einem Streit oder einer Auseinandersetzung Schiedsrichter zu sein. Wir Eltern können bei keinem Streit wirklich objektiv sein. Denn wir sehen eigentlich fast nie alles, was einem Streit vorausgegangen ist. Vielmehr sind bei einem Streit oft beide Kinder in Not und wissen nicht mehr weiter. Dann macht es am meisten Sinn, sich ehrlich für die Kinder zu interessieren und Empathie für beide zu zeigen. Kinder brauchen Begleitung, um ihre starken Gefühle zu regulieren.

Haben Sie konkrete Tipps, was zu tun ist, wenn zum Beispiel ein Kind immer das Gefühl hat, es kommt zu kurz oder es bekomme immer das kleinere Stück vom Kuchen ab?
Kürzlich hat eine Grossmutter an einem Workshop von mir teilgenommen. Sie hat mir erzählt, dass ihr älterer Enkel eifersüchtig war auf den jüngeren und diesen nicht mit seinem Spielzeug spielen liess. Da habe sie den Grösseren zu sich genommen und ihn gefragt, was er denke, für welche Spielsachen er wohl schon zu gross sei und ob er eventuell teilen könne. Er habe dann einen Teil der Spielsachen in eine Box für den Kleineren getan. Was ich damit sagen will: Diese Grossmutter hat die Eifersucht ihres Enkels ernst genommen und ihn auf eine gute Weise abgeholt.

Also einfach mit den Kindern sprechen hilft?
Jein. Bei Eifersucht hilft logisches Argumentieren meistens nicht, da sind schlicht zu viele Emotionen im Spiel. Eifersucht ist immer subjektiv und emotional. Kürzlich habe ich einen schönen Witz dazu gehört. Eine Mutter teilt ein Stück Kuchen exakt in zwei gleich grosse Teile und gibt diese ihren zwei Buben. Da schreit der Ältere: «Das ist unfair, die beiden Stücke sind gleich gross.» Manchmal sind es vermeintlich kleine Sachen, welche Kinder eifersüchtig machen. So habe ich unseren Kleineren eine Zeit lang immer zuerst ins Bett gebracht. Der Ältere wurde deswegen eifersüchtig, konnte aber nicht sagen, was ihn störte. Erst, als wir ihn darauf ansprachen, sagte er, dass er sich wünsche, dass ich mich beim Zubettgehen zuerst um ihn kümmere.

Finden rivalisierende Geschwister in der Regel als Erwachsene zueinander? Oder anders gefragt: Kommt es oft vor, dass eine Eifersucht im Kindesalter sich negativ auf die Beziehung im Erwachsenenalter auswirkt?
Das kann tatsächlich passieren. Es kann Konstellationen geben, wo das eine Geschwister sich dauernd zweitrangig fühlt oder tatsächlich vernachlässigt wird und die Eltern nie etwas unternommen haben, diesem gefühlten Ungleichgewicht etwas entgegenzusetzen. Das kann in der Tat gröbere Verletzungen hinterlassen. Dann kann es vorkommen, dass sich die Geschwister für den Rest ihres Lebens aus dem Weg gehen, sobald sie können. Umgekehrt ist es auch nicht gut, wenn Eltern immer und überall beim kleinsten Anzeichen eines Streits einschreiten.

Weshalb?
Weil dies den Geschwistern verunmöglicht, eine eigene Beziehung untereinander aufzubauen. Denn wie oben bereits erwähnt, lernen die Kinder mit jedem Konflikt nicht nur etwas, sondern diese Konflikte und gemeinsamen Erlebnisse ermöglichen ihnen überhaupt, eine Beziehung zueinander aufzubauen.

Letzte Frage: Nicht selten bekommen Eltern von ihren Kindern den Satz «du hast mich ja doch viel weniger gern als mein Geschwister» zu hören. Was, wenn das sogar stimmt. Ich also zu einem meiner Kinder einen besseren Draht habe und das andere dies genau spürt?
Das kommt sogar öfters vor, als man denkt. Es ist aber gleichzeitig auch ein grosses Tabu, weshalb Eltern nicht gerne darüber sprechen. Denn wir Eltern haben den Anspruch, all unsere Kinder im gleichen Masse zu lieben.

Ich auch!
Wir alle tun das. Nur: Es ist erstens völlig normal, dass es Phasen gibt, in denen wir zu einem Kind einen besseren Draht haben als zum anderen. Das ging auch mir nicht anders. Es gab eine Zeit, da hatte ich zum einen Sohn weniger Verbindung, was mich traurig machte. Wichtig ist aber, das zu akzeptieren und nicht so zu tun, als sei diese Ungleichheit nicht vorhanden. Gerade weil das «weniger geliebte» Kind dies genau spürt, sollte man versuchen, mit ihm darüber zu sprechen. «Ja, ich fühle mich deinem Geschwister gerade näher, das ist auch für mich gerade sehr schwierig. Ich wünsche mir, dass auch unsere Verbindung wieder eine engere wird.»

Ein Grund sind Phasen sagen Sie. Der zweite Grund?
Es ist normal, dass es zwischen einem Elternteil und einem Kind auch eine stärkere Verbindung geben kann – diese nennt man intuitive Verbindung. Es ist ein Fakt, dass wir es mit den einen Menschen besser können als mit anderen. In einem Verein oder bei der Arbeit finden wir daran nichts Schlimmes. Wieso sollte das in einer Familie anders sein? Entscheidend ist, dass wir uns dessen bewusst sind und unser Verhalten auch diesem Umstand anpassen kann. Sprich; uns damit auseinandersetzen, wie wir mit dem Kind, zu dem wir weniger Verbindung spüren, wieder vermehrt in Beziehung gehen können.

Maya Risch arbeitet als Familienberaterin, ist Familylab-Seminarleiterin und Waldkindergartenlehrperson. Sie lebt mit ihren zwei Söhnen und ihrem Mann in Zürich-Oerlikon.

Auch in diesem Artikel geht es um Geschwisterstreit und -beziehung

Hier findest du Kursabende zum Thema Geschwister www.mayarisch.ch/aktuell

Warum macht mein Kind nicht das was ich will?

Warum macht mein Kind nicht das was ich will?

Kinder wollen mit uns zusammenarbeiten und geliebt werden. Sie sind abhängig von uns und befinden sich immer wieder im Spannungsfeld zwischen Integrität und Kooperation. Sollen sie sich anpassen oder für sich einstehen?

Eltern und Kinder sprechen manchmal unterschiedliche Sprachen. Das provoziert Missverständnisse. Bild: cosmaa, iStock, getty Images Plus

Von Maya Risch

Mein Kind macht nicht das, was ich ihm sage!», höre ich Eltern in meinen Beratungen oft klagen. Ist dem wirklich so? Oder machen unsere Kinder vielleicht ganz oft, was wir ihnen sagen, aber wir achten uns erst dann darauf, wenn sie es nicht mehr tun?

Die Familie ist eine Gemeinschaft und Kinder sind soziale Wesen. Ihnen ist es wichtig, als wertvoller Teil dieser Gemeinschaft wahrgenommen zu werden. Deshalb ahmen sie uns nach und versuchen, sich unseren Vorstellungen anzupassen, mit uns zu kooperieren. Sie geben meistens ihr Bestes, um Anerkennung und Liebe von uns zu bekommen und sich als Menschen angenommen zu fühlen.

Gemeinschaft und Individualität

Auf der anderen Seite sind Kinder – wie auch wir Erwachsenen – Individuen mit einer eigenen Integrität. Damit ist gemeint, dass Kinder eigene Bedürfnisse und Grenzen haben, eine eigene Persönlichkeit, ebenso wie Eigenarten, Stärken und Schwächen.

Kinder, wie auch Erwachsene streben einerseits Zugehörigkeit zur Gemeinschaft an und wollen andererseits ihre Individualität leben. Das bringt uns alle immer wieder in einen inneren Konflikt.

Kinder bringen von Geburt an enorm viel Bereitschaft zur Kooperation mit. Das geht so weit, dass sie sich zum Teil in der Schule, im Kindergarten oder in der Tagesbetreuung weit über ihr Wohlbefinden hinaus anpassen. Sie sind den ganzen Tag oft freundlich, gehorsam, warten geduldig, halten sich an die Regeln, strengen sich an und halten Frustrationen aus. Kommen sie nach Hause, ist ihre Kooperationsbereitschaft aufgebraucht.

Warum Kinder schreien, jammern, verweigern

Da reicht eine Aussage wie «Häng deine Jacke auf!» oder «Mach deine Hausaufgaben!» und sie beginnen zu schreien, zu jammern oder alles zu verweigern. Leider sagt kaum ein Kind stattdessen: «Mami, Papi, ich kann nicht mehr, ich brauche jetzt einfach Zeit und Raum für mich und meine eigenen Bedürfnisse.» Aber genau darum geht es.

Weil sie dies verbal nicht ausdrücken können – Erwachsene übrigens häufig auch nicht –, setzen die Kinder ihre Grenzen lauthals. Sie versuchen auf diese Art, in ihr inneres Gleichgewicht zurückfinden. Meistens schaffen sie das aber nicht alleine, sondern brauchen unsere Hilfe, die in erster Linie darin besteht, ihr Verhalten nicht persönlich zu nehmen, sondern die Signale zu erkennen, die sie uns mit ihrem widerspenstigen Verhalten zu senden versuchen.

Erst in folgender Konfliktsituation mit meinem Sohn wurde mir richtig bewusst, dass ich diesen inneren Konflikt zwischen Kooperationsbereitschaft und Integrität bis zu diesem Zeitpunkt nur der Spur nach verstanden hatte:

«Endlich konnte ich seine Not erkennen»

Ein Morgen, mitten im Schuljahr. Unser Sohn stand fertig angezogen unter der Wohnungstür, weinte und sagte, er könne nicht in die Schule, weil er Bauchweh habe – eine regelmässig wiederkehrende Situation. «Nun bloss nicht nachgeben, sonst hört das nie auf», dachte ich. Ich drängte ihn, trotz seinem Unwohlsein loszugehen und sagte: «Schule ist deine Aufgabe, du musst trotzdem hingehen.» 

Als er mir dann unter Tränen verzweifelt sagte: «Das habe ich doch versucht. Siehst du denn nicht, dass ich schon so weit gegangen bin wie ich konnte, sonst wäre ich ja im Pyjama geblieben – ich kann nicht mehr weiter als bis hierher.» In dem Moment verstand ich endlich, was genau damit gemeint ist, dass Kinder kooperieren, so lange sie können und zum Teil darüber hinaus, zum Beispiel bis sie Bauchweh bekommen.

Endlich konnte ich seine Not erkennen, und die Schulpflicht wurde zweitrangig. Wir hatten einen sehr schönen, gemeinsamen Vormittag zu Hause, der unserer Beziehung extrem guttat. Ich spürte enorme Dankbarkeit auf seiner Seite, dass ich auf sein Dilemma reagiert und ihn dabei unterstützt hatte, das zu tun, was für ihn nötig war, um sein emotionales und physisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Dass das gelang, zeigte sich unter anderem darin, dass die Bauchschmerzen verschwanden, er am Nachmittag problemlos zur Schule ging und in den nächsten Tagen sehr gelöst war und sich kooperativ verhielt.

Meine Reaktion führte auch nicht wie anfangs befürchtet dazu, dass sich diese „Bauchwehsituationen“ gehäuft hätten. Im Gegenteil, sie nahmen ab diesem Moment deutlich ab.

Den Selbstwert unserer Kinder stärken

Wenn wir die Signale als solche erkennen und darauf mit Empathie, Vertrauen und Verständnis reagieren, dann unterstützen wir unsere Kinder darin, ihr Gleichgewicht wiederzufinden und stärken ihren Selbstwert.

Leider ist das viel einfacher gesagt als getan. Das Verhalten der Kinder trifft uns manchmal persönlich oder nervt uns, weil es als unverständliche Weigerung daherkommt. Zudem sind wir als Eltern nicht unbegrenzt belastbar und haben auch unsere eigenen Grenzen und Bedürfnisse. Und wir haben auch unsere Schwächen. Wir sind deshalb bei weitem nicht immer in einem Zustand, der es uns möglich macht, auf eine Weigerung in oben beschriebenem Sinn zu reagieren. Es lohnt sich aber, dies trotzdem zu versuchen.

Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen immer mal wieder gelingt, die bedingungslose Liebe zu sehen, die Ihr Kind Ihnen entgegenbringt und seine Bestrebungen wahrzunehmen, ein wertvoller Teil der Familie zu sein.

Literaturtipp:

Mehr zum Thema Integrität und Kooperation finden Sie hier:

«Dein kompetentes Kind» – Jesper Juul, Herder Verlag
Erhältlich auf www.familylab.ch

«Das gewünschte Wunschkind treibt mich in den Wahnsinn» Katja Seide und Danielle Graf, Beltz-Verlag

Im März 2019 ist dieser Artikel von mir in der Onlinezeitschrift www.familienleben.ch erschienen.

Mit einem Klick auf den Titel kannst Du den Artikel als PDF downloaden.

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