Mut zu persön­li­chen Grenzen: So lernen Kinder Rücksichtnahme

Es ist nicht immer einfach, die rich­tige Balance zwischen Grenzen und Frei­heit in der Kinder­er­zie­hung zu finden – vor allem, wenn wir als Eltern an unsere persön­li­chen Grenzen kommen. Die Erzie­hungs­be­ra­terin Maya Risch hilft Ihnen, Ihren Weg zu finden.

(Erst­mals erschienen auf www​.fami​li​en​leben​.ch)

Foto: Lisa5201, iStock, Getty Images Plus

An manchen Tagen können Eltern Kinder­lärm nur schwer ertragen. Viel­leicht ist es an der Zeit, eine persön­liche Grenze zu formulieren?

Kinder brau­chen Grenzen! Kinder brau­chen Frei­heit, um sich gesund zu entwi­ckeln! Zwei wider­sprüch­liche Sätze, die wir Eltern immer wieder zu hören und zu lesen bekommen. Wie sollen wir mit diesem Wider­spruch umgehen? Setze ich meinem Kind zu wenig Grenzen? Wird es so zu einem unso­zialen Menschen heran­wachsen, der nicht gelernt hat, andere zu respek­tieren? Schränke ich mein Kind zu stark ein? Behin­dere ich seine Entwick­lung und mein Kind entwi­ckelt sich zu einem unsi­cheren Erwach­senen? Solche und ähnliche Fragen stellen sich Eltern immer wieder.

Kinder sollen auf jeden Fall ihre eigenen Grenzen erfahren und diese, ihre Fähig­keiten und Grenzen, ausweiten dürfen. Sie brau­chen zudem Erwach­sene, die klare persön­liche Grenzen ziehen.

Kinder erfahren eigene Grenzen und stossen an unsere Grenzen

Kinder wachsen und entwi­ckeln sich. Sie entde­cken die Welt, erobern Räume und erwei­tern ihren Akti­ons­ra­dius laufend. Dabei erleben sie einer­seits immer wieder Erfolge, ande­rer­seits, dass sie an ihre eigenen Grenzen stossen, zum Beispiel wenn sie als Einjäh­rige versu­chen zu laufen und umfallen oder später den Reiss­ver­schluss selber zuzu­ma­chen versu­chen und das nicht auf Anhieb klappt – oder wenn sie auf einen Baum klet­tern wollen und den Ast noch nicht errei­chen können.

Es ist nicht die Aufgabe des Kindes, unsere Grenzen zu spüren, sondern es ist unsere Aufgabe, diese klar und deut­lich erkennbar zu machen.

Wenn wir die Kinder ermu­tigen, Erfah­rungen zu machen, sie selber Lösungen suchen lassen, ohne gleich helfend einzu­schreiten, tragen wir viel zu einer gesunden Entwick­lung ihrer Frus­tra­ti­ons­to­le­ranz und Selbst­wirk­sam­keit bei. Gleich­zeitig erfahren und erleben Kinder hier Grenzen; Limits, die sich auf Grund ihres eigenen Könnens und Lernens natür­lich ergeben. Diese Grenzen dürfen sie erwei­tern. Die Über­win­dung derselben führt letzt­end­lich oft zu Erfolgs­er­leb­nissen und so zur Stär­kung ihres Selbstvertrauens.

Kinder erleben auch Einschrän­kungen, wenn sie an die Grenze von uns Eltern stossen. Dann sagen wir als Eltern oft: «Ich komme an meine Grenze mit meinem Kind» und meinen damit, dass ihre persön­liche Grenze erreicht ist. Das ist gut und zeigt uns Eltern, dass der Moment gekommen ist, dem Kind diese, unsere Grenze deut­lich zu machen. Häufig denken wir in solchen Momenten, dass das Kind doch selber merken sollte, dass jetzt genug ist. Das kann und tut es aber in der Regel nicht. Es ist nicht die Aufgabe des Kindes, unsere Grenzen zu spüren, sondern es ist unsere Aufgabe, diese klar und deut­lich erkennbar zu machen.

Unter­schied zwischen Regeln und persön­li­chen Grenzen

Mensch­liche Gesell­schaften brau­chen soziale Regeln, Gebote und Verbote wie z.B. Verkehrs­re­geln oder das Verbot zu stehlen. Auch Fami­lien brau­chen ein paar wenige Regeln und Verbote. Diese Regeln sind
allge­meine, unper­sön­liche Grenzen. 

Allge­meine Grenzen sind starr. Kinder erleben diese Art von Grenzen oft als will­kür­liche Einschrän­kung ihrer Frei­heit. Gesunde Kinder von heute nehmen diese Einschrän­kung selten einfach so hin, sondern rebel­lieren dagegen. So entstehen anstren­gende Macht­kämpfe, bei denen beide Seiten viel Energie verlieren und die einer guten Bezie­hung im Weg stehen. Deshalb ist es wichtig, nur so viele dieser Regeln aufzu­stellen, wie wir wirk­lich als drin­gend nötig erachten. Drei bis vier reichen aus. 

Natür­li­cher­weise dehnen Kinder ihre Akti­vi­täten so weit aus, leben so weit nach ihren Vorstel­lungen, bis sie an unsere Grenzen stossen, oder an die Grenzen einer sozialen Gruppe oder eines anderen Gegenübers.

Diese Grenzen sind persön­lich, von Person zu Person anders. Nicht nur, weil sie von Mensch zu Mensch vari­ieren, sondern auch weil sie von Tag zu Tag unter­schied­lich sein können. Wir haben nicht jeden Tag gleich viel Energie und Geduld, uns mit unseren Kindern zu beschäf­tigen und z.B. Lärm auszu­halten. Entschei­dend ist nun, dass wir diese Grenzen ehrlich als das kommu­ni­zieren, was sie sind, nämlich unsere persön­liche Grenze im Hier-und-Jetzt.

Persön­liche Grenzen – versus allge­meine Grenzen und Regeln

Im folgenden Beispiel zeige ich, wie wir mit allge­meinen oder persön­li­chen Grenzen auf ein Verhalten reagieren können.

Wenn mein Sohn alle Pfannen und Koch­löffel aus dem Küchen­schrank hervor­holt, um damit laut Musik zu machen, stört mich das heute viel­leicht, da ich müde oder lärm­emp­find­lich bin. Nun kann ich mich entscheiden. Will ich ein Verbot (starre Grenze) ausspre­chen? «Mit Pfannen spielt man nicht.» «Das Musik­ma­chen mit Pfannen ist verboten.» Hier wird das Verhalten des Kindes einge­schränkt und das Kind ist aufge­for­dert, das Verbot ernst zu nehmen. Wenn ich die Grenze auch noch in einem scharfen Ton (schimp­fend) aufstelle, fühlt sich das Kind ausserdem falsch mit seiner Idee, mit Pfannen musi­zieren zu wollen.

Bei einer persön­li­chen Grenze lernt das Kind etwas darüber, was mir wichtig ist, wie es mir gerade geht und lernt MICH ernst zu nehmen anstelle einer starren Grenze oder eines Verbots. 

Ziehe ich eine persön­liche Grenzen? Dann kann ich zum Beispiel zu meinem Kind sagen: »Nein, ich will nicht, dass du jetzt hier mit den Pfannen musi­zierst. Ich ertrage das gerade jetzt nicht, mir ist es zu laut.» «Du darfst gern in deinem Zimmer weiter­ma­chen. Ich sehe, dass dir das Spass macht.» oder «Diese Pfanne ist mir sehr wichtig, ich will nicht, dass du damit spielst.» So lernt das Kind etwas darüber, was mir wichtig ist, wie es mir gerade geht und lernt MICH ernst zu nehmen anstelle einer starren Grenze oder eines Verbots.

Beim Ziehen persön­li­cher Grenzen geht es darum, dass ich mich als Mutter/Vater in einer persön­li­chen Sprache klar auszu­drü­cken, was, MIR gerade jetzt zu viel ist, wo ich gerade jetzt an meine Grenzen komme und was ICH WILL oder NICHT WILL. Hilf­reich ist es, dem Kind gleich­zeitig zu zeigen, dass ich seinen Wunsch oder das Bedürfnis gehört, wahr­ge­nommen habe. Sein Verhalten und was es will ist ja nicht falsch.

Persön­liche Grenzen zu ziehen braucht Mut und Klarheit

Wir können uns nicht hinter Allge­mein­plätzen oder unserer Rolle als Eltern­teil verste­cken, sondern müssen Farbe bekennen. Und das fällt uns im Allge­meinen viel schwerer, als uns lieb ist.

Wenn Kinder erleben, dass ihre Grenzen wahr­ge­nommen und respek­tiert werden, sind sie viel öfter bereit, uns und unsere Grenzen eben­falls ernst zu nehmen.

Manchmal über­schreiten Kinder unsere Grenzen. Sie tun das meis­tens, weil sie unsere Grenzen (noch) nicht kennen oder nicht klar wahr­nehmen – und nicht, um uns zu provo­zieren oder zu ärgern. Sie stehen für sich und ihre Wünsche und Bedürf­nisse ein und wollen dabei heraus­finden, was uns wirk­lich wichtig ist und was wir wirk­lich nicht wollen. Ihre Bedürf­nisse oder Wünsche prallen auf unsere, ein gesunder Konflikt entsteht. Darüber, wie wir damit umgehen können, ein andermal mehr. 

Im Zusam­men­hang mit Grenzen dürfen wir nicht vergessen, dass auch unsere Kinder persön­liche Grenzen haben. Sie zeigen schon früh, ob ihnen körper­liche Nähe ange­nehm ist oder ob sie genug gegessen haben, ob sie Ruhe brau­chen oder nicht länger allein sein mögen. Hier sind es wir Erwach­senen, die lernen müssen die Grenzen der Kinder wahr- und ernstzunehmen.

Wenn Kinder erleben, dass ihre Grenzen wahr­ge­nommen und respek­tiert werden, steigt ihre Koope­ra­ti­ons­be­reit­schaft und sie sind viel öfter bereit, uns und unsere Grenzen eben­falls ernst zu nehmen.

Einla­dung zur Selbstreflexion

Wie gut achten Sie auf Ihre Grenzen bezüg­lich Energie und Müdig­keit? Wie oft nehmen Sie Ihre Grenzen zu spät war und sorgen zu wenig für sich? Kommt es dann vor, dass Sie unbe­herrscht auf die Wünsche und Bedürf­nisse der Kinder reagieren? Wie ernst nehmen Sie die Grenzen Ihres Kindes?

Buch­tipps:

  • Rolf Sellin, «Bis hierher und nicht weiter!»: Wie Sie sich zentrieren, Grenzen setzen und gut für sich sorgen.
  • Jesper Juul, «Nein aus Liebe» Klare Eltern – starke Kinder
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