Begleiten statt beschwich­tigen: Wie Kinder lernen, konstruktiv mit ihrer Wut umzugehen

Wenn unser Kind wütend wird, versu­chen wir oft, es zu beschwich­tigen oder zurecht­zu­weisen. So bewirken wir vor allem eins: Es lernt, dass seine Wut nicht akzep­tabel oder erwünscht ist. Dabei ist Wut ein wich­tiges (und rich­tiges) Gefühl, das uns antreibt, aber auch Grenzen aufzeigt. Warum wir eigene Erfah­rungen hinter­fragen müssen, um unseren Kindern einen gesunden Umgang mit ihrer Wut zu ermöglichen. 

(Erst­mals erschienen auf www​.fami​li​en​leben​.ch)

Wut ist für Kinder ein über­wäl­ti­gendes Gefühl – aber ein wich­tiges. © Getty Images, Aleksey Sergienko

Wenn es Zähne putzen oder aufräumen sollte, mitten im Spiel oder am Mittags­tisch: Hat dein Kind auch oft – gefühlt aus dem Nichts – einen Wutan­fall und wird dabei viel­leicht sogar aggressiv? Mit solchen Situa­tionen umzu­gehen, stellt für viele Eltern, aber auch für pädago­gi­sche Fach­per­sonen, immer wieder eine grosse Heraus­for­de­rung dar. Unter anderem auch, weil wir als Erwach­sene wissen, wie aus Wut schnell Gewalt oder Schmerz entstehen kann. Und genau davor wollen wir unsere Kinder ja schützen…

Es ist verständ­lich und richtig, dass Eltern und Fach­leute Kinder vor Gewalt schützen (wollen). In dieser Sorge passiert es aber leider oft, dass wir Erwach­senen nicht nur Gewalt fern­halten, sondern auch Wut und aggres­sives Verhalten. Dabei sind dies Grund­ge­fühle. Gefühle, die ihren Platz brau­chen und ihre Berech­ti­gung haben. 

Gefühle auszu­halten ist für Eltern oft schwierig

Babys kommen mit einer eigenen Persön­lich­keit zur Welt. Schon sehr bald zeigen sie alle Grund­ge­fühle – Freude, Angst, Wut und Trauer. Sie zeigen auch Schmerz­emp­finden, Frus­tra­tion und erste Bedürf­nisse wie Hunger und Durst oder jenes nach Nähe und Distanz. Durch die Reak­tionen ihrer engsten Bezugs­per­sonen lernen sie, dass es in Ordnung ist, gewisse Gefühle zu zeigen, andere aber nicht. Sie erfahren so, welche Anteile ihrer Persön­lich­keit in ihrer Familie ange­nommen werden, also da sein dürfen, und welche nicht. 

Denn wird unser Kind wütend und drückt dies laut­stark – manchmal auch mit Hilfe seines ganzen Körpers – aus, fällt es uns Erwach­senen oft schwer, das Kind mit diesen Gefühlen anzu­nehmen und ihm beizu­stehen. Statt­dessen weisen wir es zurecht, versu­chen es zu besänf­tigen oder abzulenken.

Erfah­rungen in der Kind­heit prägen unser Verhalten

Unser Verhalten hat seine Gründe: Viele von uns fühlen sich hilflos, weil wir selber nicht gelernt haben, konstruktiv mit Wut umzu­gehen und so keine Modelle für einen konstruk­tiven Umgang hatten. Auch eigene schmerz­hafte Erfah­rungen mit Wut, als wir selber Kinder waren, spielen eine wich­tige Rolle: Weil wir Eltern oder Lehr­per­sonen hatten, die destruktiv, und gewalt­voll mit Wut umge­gangen sind. Oder weil unsere Wut abge­klemmt wurde und wir uns allein gelassen, unver­standen fühlten mit unserer Wut. 

Solche Erfah­rungen beein­flussen, wie wir heute auf Wut reagieren. Dies führt oft dazu, dass wir Wut und aggres­sives Verhalten unserer Kinder ablehnen, schwer aushalten oder ihnen dieses aberziehen wollen. Das ist schade, denn Wut ist wichtig für uns alle. Sie ist ein Signal, das uns zeigt, dass eine Grenze über­schritten wurde.

Wütende Kinder brau­chen Begleitung

Für Kinder, beson­ders Klein­kinder, ist das Gefühl von Wut oft über­wäl­ti­gend. Sie verstehen selber noch nicht, was da mit ihnen passiert. Reagieren Eltern, Lehr­per­sonen oder andere enge Bezugs­per­sonen auf Wutaus­brüche mit mora­li­schen Vorwürfen wie: «Kannst du nicht normal reagieren!» oder «Geh in dein Zimmer! Du kannst wieder zu uns kommen, wenn du dich beru­higt hast», dann erfahren Kinder dies als Abwei­sung und folgern, dass Wut offenbar falsch ist und sie Wut nicht zeigen dürfen. So werden sie mit diesem Gefühl allein­ge­lassen und können nicht lernen, dieses Gefühl konstruktiv zu regulieren.

Mit der Zeit verlieren Kinder so den Zugang zu ihrer Wut, lehnen dieses Gefühl ab und unter­drü­cken es, so dass sich die Wut gegen innen richtet oder irgend­wann explosiv ausbricht. Jeden­falls wird dadurch die Persön­lich­keit des Kindes beschnitten.

Wut ist ein wich­tiges Signal

Der Verlust des Zugangs zur eigenen Wut bedeutet einen Verlust an wich­tiger Lebens­en­ergie. Denn Wut ist eine Kraft, die uns hilft, für uns und unsere Wünsche und Werte einzu­stehen und Ziele zu errei­chen. Es ist ein Gefühl, das uns zeigt, wenn eine Grenze über­schritten wurde und es uns nicht gut geht. Wut ist ein Signal, das uns darauf aufmerksam macht, dass etwas ins Ungleich­ge­wicht geraten ist.

Es ist deshalb für Kinder und Erwach­sene wichtig, einen konstruk­tiven Umgang mit Wut und Aggres­sion zu erlernen.

Was hinter wütendem Verhalten alles verborgen sein kann, darüber gibt es hier mehr zu lesen.

So lernen Kinder, Wut zu benennen und zu regulieren

  1. Damit Kinder einen konstruk­tiven Umgang mit starken Gefühlen wie Wut und Frust lernen, benö­tigen sie vor allem Erwach­sene, die ihr eigenes Empfinden benennen. Sie geben dem Kind so die Worte, dies es braucht, um seine eigenen Gefühle zu verstehen und zu benennen. 
  2. Dann brau­chen Kinder jemanden, der für sie da ist, wenn sie wütend sind. Und zwar mit der Haltung: «Ich sehe, du bist ganz aufge­regt und wütend, das ist in Ordnung. Komm steig zu mir in den Lift ein, wir fahren wieder zusammen runter». Dies wird in der Fach­sprache auch Co-Regu­la­tion genannt.
  3. So können Kinder in einem weiteren Schritt Stra­te­gien zur eigenen Gefühls­re­gu­lie­rung erlernen. Sie lernen, dass es andere Möglich­keiten gibt, als in ihrer Wut andere zu schlagen oder Dinge herum­zu­werfen. Beim erlernen solcher Stra­te­gien spielt die Reife des Gehirns der Kinder sowie ihre moto­ri­sche Entwick­lung und Selbst­steue­rung eine wich­tige Rolle.

Erste Stra­te­gien entstehen im Baby-Alter
 Übri­gens: Als Babies regu­lieren sich Kinder mittels schreien, weinen und saugen. Dies sind erste Stra­te­gien, mit starken Gefühlen, wie Wut und Frust umzu­gehen. Sie benö­tigen dann Erwach­sene, die aufmerksam und achtsam da sind und zuhören, reagieren und ihnen zeitnah helfen, sich wieder zu beru­higen, indem sie das Kind in den Arm nehmen, neben ihm sitzen oder es wiegen, schau­keln, ihm die Brust oder den Nuggi anbieten. 

Gefühle spie­le­risch zum Thema machen: So geht’s

Weiter können folgende Ideen dabei helfen, damit Kinder weitere Stra­te­gien lernen, um einen konstruk­tiven Umgang mit Wut zu finden.

  • Gefühls­bilder zu Hause aufhängen und bespre­chen, wenn sich das entspre­chende Gefühl zeigt. Dies gilt natür­lich auch für die Eltern.
  • Bilder von Gefühlen (z.B. Gefühlsrad mit vier Gefühlen für kleine Kinder, mit sechs bis zehn für ältere) aufhängen und mithilfe einer Wäsche­klammer dem Kind die Möglich­keit geben, ein Gefühls­bild «anzu­klam­mern» und so ohne Worte zu zeigen, wie es ihm geht.
  • Bilder­bü­cher zum Thema sind wunderbar dafür geeignet, mit Kindern ins Gespräch zu kommen. Hier ein paar Ideen dazu: («Wenn ich wütend bin», «Kleiner Drache, grosse Wut»)
  • Mehr Ideen für Stra­te­gien sind hier zu finden: Zum Artikel.
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